Wolfenbüttel

Eine Leseprobe aus Prizinkens Weltreise:

Die ersten drei Episoden (Wolfenbüttel Teil 1-3)

1

Herzog August Bibliothek (HAB)

Guten Tag, Hans Haas von Prizinken mein Name, aus besonderen ostelbischen Verhältnissen. Ich befinde mich hier bei den Krambuden, Nähe Stadtmarkt, Wolfenbüttel. Es ist hier gar nicht so übel wie ich dachte; ja, vielleicht sogar der richtige Ort: Hochansehnliche Brüder, schade, dass ich euch nicht sehen kann – ihr erhaltet diese Nachricht als Aufzeichnung, wie mir versichert wurde. Na, zumindest könnt ihr mich gut sehen. Vermutlich sitzt ihr gerade, wenn ihr das empfangt, in dem ersten Seminar, das unser geschätzter Hochmeister zur Beförderung seiner, unserer Sache, eingerichtet haben wird – unter meinem unmaßgeblichen Zutun –, eure Gedanken sind sicher schon ganz bei der Vorlesung, die er für uns verfasst hat, zu dem Zwecke, dass auch wir die Einsicht in jene höheren und unabwendbaren Dinge bekommen, die ihn selbst mit Freude, herzerhebendem Gefühl und auch Schrecken erfüllt haben. Ihr sollt sie mit Sorgfalt studieren, denn ihr werdet euch darüber prüfen lassen. Nun, gerade dazu bin ich hier, um euch als ein Besipiel voranzugehen und Mut zu machen. Ich werde die Vorlesung als erster studieren und auch ich habe, wie Ihr, eine Prüfung zu bestehen, wenn auch eine ganz andere. Ich kenne sie jetzt noch nicht, sie wird mir am Ende, nach der letzten Vorlesung, zugeteilt werden – es wird aber eine Bewährungsprobe, soviel ist sicher, und sicher ist auch, dass – gesetzt, ich bestehe – mir durch euren Hochmeister die Avance und die Ehre zukommen wird, erster Ritter des Novus Ordo zu werden. Ich muß sagen, ich war begeistert von dem Moment an, als er mir bei einem Treffen seine Sache eröffnet hat. „In dem anbrechenden Eisernen Zeitalter“, das bedeutete er mir in dem er sich zu mir vorbeugte, „braucht es einen neuen Ritterorden.“ Und er rede nicht von dröhnenden Eisenreitern. An dieser Stelle einhaltend, drehte er sich mit rührendem Schweigen zum Fenster, malte mit dem Finger konzentrische Kreise in die Luft, dann zwei geschwungene Schenkel, und zitierte dabei meines Behaltens diese Verse: der Schönheit Stimme redet leise: Leise erbebte und lachte mir heut mein Schild; das ist der Schönheit heiliges Lachen und Beben. Er erzählte mir dann von jener Entdeckung am Gründonnerstag, und vom Buch des Menschen, und wie er durch weiteres Nachforschen diese ganze kolossale Sache, Novus ordo, zum Vorschein brachte. Natürlich, der Hochmeister, in diesen ersten Jahren sozusagen das einzige Mitglied seines Ordens, ist von selbst „Ritter des Novus Ordo“, einfach qua Entdeckung des Ganzen. Bei dem allerhöchsten Respekt vor seiner Leistung – versteht mich richtig – der Hochmeister ist selbst nicht ritterbürtig. Er hätte die Gnade der späten Geburt, aber nicht die Gnade der hohen Geburt, das hat er in dem Gespräch mehrfach betont. Nun war es ihm scheinbar ein Anliegen, durch Rückgriff auf einen jungen Spross aus altem Ritteradel, seinem Orden noch einen ... Goldgrund angedeihen zu lassen – ich habe das jetzt in meinen Worten ausgedrückt, hoffend, das es so Recht ist. Also, ich stamme aus preußischem Adel. Mein Urahn, Hans von Prizinken, dieses Namens der erste, später der „deutsche Achilles“, auch Eiserner Hans genannt, war nach verbürgten Quellen derjenige, der in der Schlacht von Tannenberg, Vierzehnhundertzehn, inmitten der feindlichen Reihen, das polnische Königspanier ergriff und aus ganzer Brust in den Hymnus „Christus ist erstanden“ ausbrach, alle anderen mitreißend. Später soll er Aufnahme in den berühmten Drachenorden gefunden haben.

Um gleich mit Mißverständnissen aufzuräumen: zwischen meiner Zusage und dem Umstand, dass ich mich in Kürze in einer Privatmaschine auf eine Reise über den Globus begeben werde, besteht nicht der geringste Zusammenhang. Ich lasse mich niemals von solchen Argumenten überzeugen und es wird auch keine Absicht darin gelegen haben. Der Hochmeister hat etwas Fühlung nach oben aufgenommen – na und? Was ist verkehrt daran? Abgesehen davon wird es ja keine Lustreise. Das Flugzeug ist mir persönlich ein gutes Stück zu groß. Es ist eine umgebaute Boeing 757. Und ja, unser Gespräch fand in dieser Maschine statt. Sie trägt das Zeichen. Man werde uns bevorzugt behandeln an den meisten Flughäfen. Ich kann euch im Moment nicht mehr darüber sagen, bin gehalten, Stillschweigen zu bewahren. Ich hätte überhaupt nichts dagegen, auf die Partie zu verzichten und mich gleich mit euch in dieses Ritterseminar zu setzen. Das Geld sofort in die Ausbildung junger, handverlesener Kadetten zu investieren. Das Dümmste, was man tun könnte, wäre doch, Novus ordo einfach zu veröffentlichen, die Tatsachen, so wie sie sind, zwischen zwei Buchdeckel zu pressen und ins Volk zu werfen, zum profanum vulgus. Nach dem Bescheidenen zu urteilen, was ich bis jetzt über Novus ordo und über den Inhalt der Vorlesung erfahren konnte, gehört die Sache ausschließlich in die richtigen Hände, es sei denn, jemand möchte, dass das Chaos ausbricht. Darüber sind der Hochmeister und ich uns aber völlig einig.

Das ist jetzt der Markt. Schaut euch diese Leute an. Die schieben sich nur so an den Ständen vorbei. Hier ist wohl gerade Billiger Jakob. Ich will ehrlich sein: als mir der Hochmeister das erste Ziel meines Reiseplans nannte, war mein erster Satz: „Was soll ich denn in Wolfen-Büttel?“ Na gut. Keine weiteren Fragen. Ein bisschen schlau habe ich mich dann natürlich gemacht. Jägermeister kommt aus Wolfenbüttel! Und man glaubt es nicht: der verruchte Giacomo Casanova verbrachte hier die acht glücklichsten Tage seines Lebens, davon die meiste Zeit in der HAB, der Herzog August Bibliothek, einer der bedeutendsten Barockbibliotheken der Welt. Es ging damals um seine Übersetzung der Ilias. Tja, alle paar Jahrhunderte verschlägt es scheinbar auch mal so einen galanten Burschen nach Wolfenbüttel. Friedrich der Große hat ihm später eine Stelle als Schulmeister an einer Anstalt für pommersche Landjunker angeboten. Und der Dummkopf hat abgelehnt. Hätte ihm der Alte besser einen Posten an einer Höheren Töchterschule gegeben. Die Herzog August Bibliothek ist übrigens auch mein erstes Ziel. Ich habe zur Vorbereitung den Text von Borges’ „Das Aleph“ gesendet bekommen und dazu auch gleich die erste Vorlesung. Den Borges habe ich vorhin gelesen, die Vorlesung werde ich in der HAB lesen. Dafür brauche ich erst einmal eine Stärkung. Brüder, ich gebe euch jetzt nur wieder, was mir der Hochmeister gesagt hat – führt euch das zu Gemüte: Das Aleph, das er selber gefunden hat, nennt er Aleph-Null oder Novus ordo. Das von Borges beschriebene Aleph gibt es nicht in Wirklichkeit. Im Himmel vielleicht, meint er, aber nicht in dieser Welt. Ein ausgemachtes Fantasiegebilde. Sehr gut. Bis dahin kann ich folgen. Jetzt aber das: Zwischen dem Aleph-Null – und ich habe dieses bleistiftgezeichnete Ding ja gesehen; er hat es mir auf einem läppischen Blatt Papier vorgehalten – zwischen diesem Aleph-Null und dem Aleph aus der Borges-Erzählung, ist er sich sicher, kann es kein weiteres Aleph geben. Auf deutsch: In Novus ordo steckt auf so wenige Striche verteilt Erkenntnis von so gewaltigem Gewicht, dass es jedes Vergleiches in der Welt spottet. Und – das ergänzte er –, der Teufel stecke darin, weil er es nicht beweisen könne – also dass es kein größeres Aleph in der Welt gibt als seines. Ich hoffe, ich habe das korrekt wiedergegeben. Was das für gewichtige Erkenntnisse sind, die im Aleph stecken, steht alles in der Vorlesung, Und natürlich auch, was es mit dem Ende – Was?? Nein, ich möchte keine Knackwurst probieren. Halt! Moment mal... ist das Leberwurst? Geben Sie mir was davon. Packen Sie mir ein Pfund davon ein. Was ist das? Braunschweiger? Wolfenbütteler?

2

Beatae Mariae Virginis (BMV)

Und dann sagt der: „Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ und stellt sich vor: ein junger Barockforscher, aber bereits von internationalem Renommee, und das hier sei sozusagen sein Wohnzimmer. „Danke, ich habe mir etwas zu lesen mitgebracht.“ „Ja“, sagt er, „der Herzog hat auch mal klein angefangen: im Stall, unten standen die Pferde, oben die Bücherregale. Und nun: circumspice! Schauen Sie sich um!“ Ich darauf: „Na ja, so ist das eben: die Ställe bleiben immer dieselben, nur die Schweine ändern sich.“ Etwas pikiert fragt er: „Wo kommen Sie denn her?“ „Mein Name ist Hans Haas von Prizinken – à la suite des Hochmeisters. Und bei Ihnen, wie läuft die Barockforschung?“ „Ach, Sie müssen sich das Ganze hier vorstellen wie ein Bergwerk: die Bibliothekare bohren die Schächte, wir treiben die Stollen und Strecken zu den Erzadern der barocken Gelehrsamkeit, und unsere Kongresse sind die Schmelzöfen, in denen wir im Dienste der Aufklärung das Edelmetall der Erkenntnis gießen... Sie sagten ‚Hoch-Meister’?“ und lächelte dabei unter der Nase. „Sie sind doch nicht vom Orden der Okerschwäne? Ihr Hochmeister, warten Sie mal... ist der vielleicht von der ‚Babinischen Gesellschaft’?“ Ein Begriff, dessen Sinn ich nur ungefähr aus der Süffisance meines Unterredners erschließen konnte. „Nein, und übrigens ist es bei ihm so ähnlich wie bei Ihnen – nur: der Hochmeister arbeitet allein im Tagebau, im hellen Licht der Freudensonne, denn der Aufschluss der größten Erkenntnisse liegt manchen näher als anderen. Unser Hochmeister, er hat die Goldader freigelegt, und der goldene Ring, er ist bereits geschmiedet.“ „Ah, verstehe, der Ring sie zu knechten. Wissen Sie, Herr von Prizinken, wie heißt es so schön: Goldglanz vergeht, Schweinsleder besteht. Ich wende mich besser wieder meinen Büchern zu. Vita brevis, ars longa“ und während er so sprach bemächtigten sich wieder Saturn und Melancholie seiner Gesichtszüge. „Ja, und mich ruft die Welt. Kopf hoch und Glück auf, mein Freund!“

Ich bin dann nach draußen gegangen, habe mich auf eine der Bänke vor dem Lessinghaus gesetzt und in Ruhe die zweite Vorlesung weitergelesen. Ich musste dabei an die Zeitung aus der Bibliothek denken: ich meine die erste regelmäßig erschienene Zeitung der Welt – in Wolfenbüttel! Gedruckt 1609 – eine Art Wochenblatt für gebildete Stände, mit Neuigkeiten aus Deutsch- und Welschland (Italien), Spanien, Niederlande, England, Frankreich, Österreich, Ungarn, Preußen und Übersee. Es kommt mir vor, als würde in dem Aleph nur zusammengefasst, was all die Zeitungen seit 1609 berichten, über dieses Europa, das lange zögert, eh es untergeht, in diesem „atemlos blinden Spiel“. Die „translatio“ ist doch auch in Wirklichkeit ein Zyklus! Und der mächtige Zirkel in Lessings Stube, der ist der gleiche, der in unserem Flugzeug hängt. Unser Hochmeister schätzt die Geometrie.

So hat es mich dann hierhergezogen – mir war plötzlich nach Nähe zum höchsten Wesen zumute, versteht Ihr, ich wollte mit ihm allein sein. Ich bin Protestant, und zwar auf meine Art. Ja, ich glaube an Gott, und ich glaube, dass er sich in mir zu einem guten Stück – versteht mich richtig! – nun ja, verwirklicht hat. Die Kirche, die ihr hinter mir seht, ist die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis. Es ist eine evangelische Hallenkirche, und zwar der erste bedeutende Kirchenbau der neuen Religion überhaupt. Ich will zur Welfengruft, die sich unter dem Chor befindet. Unter der Kirche liegen sieben Generationen des Fürstengeschlechts, unter anderem Herzog August II., das „ehrwürdige Gestirn Germaniens“, gestorben Sechszehnhundertsechsundsechszig, dem wir auch die Bibliothek zu verdanken haben, nebst einigen Hexenjagden. Dann soll ich Anton Ulrich Reverenz erweisen, auf Anordnung des Hochmeisters. Vielleicht möchte der Herzog unseren Hochmeister dem Allerhöchsten empfehlen?

3

Theodor-Heuss-Gymnasium (THG)

Manchmal geschehen Dinge: Ich bin gestern über den Sarkophagen ein bisschen verweilt und – da haben die mich eingeschlossen! Musste die ganze Nacht in der Kirchengruft zubringen. Wenigstens habe ich dort, so mutterhundseelenallein, Zeit gehabt, mir die dritte Vorlesung zu Gemüte zu führen. Heute Morgen kommt der Sakristan in die Kirche, hört mich in der Gruft stöhnen und ruft: „Ist da wer? Wurden Sie eingeschlosen?“ Ich sage: „Ja was denken Sie denn? Die Zombie-Apokalypse?“

Ich habe gerade vom Hochmeister einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1968 bekommen, von einem deutschen Intelligenzblatt. Darin wird von dem Studenten Dietrich Düllmann berichtet, der hier am Abend vor Totensonntag in der BMV eingeschlossen wurde – zu seiner Danknehmigkeit – er hatte nämlich eine Axt in seinem Rucksack versteckt. Den Stiel hatte er beschriftet mit Matthäus 3,10: „Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt!“ Schon vorher hatte er ein Gefallenengedenken von Deutschgesinnten in der Garnisonskirche aufgestört und war dafür unter „Schweinehund!“- und „Lumpenhund!“-Rufen zur Hölle gejagt worden. Jetzt wollte er, sozusagen in heiliger Wut, zum äußersten Mittel greifen. Dabei hatte er es auf die Ehrentafeln für die Kriegshelden abgesehen. Die hat er dann zu Kleinholz gemacht. Die Tat kommentierte er mit: „Das ist das Christentum, das Auschwitz ermöglicht hat!“ Ich soll mir über Matthäus 3,10 Gedanken machen, sagt der Hochmeister, ob die Kirche ein abgestorbener Baum sei, und auch über die Säkularisierung als theologisches Problem. Dinge, die nicht in seine Vorlesung gehören; er sei Hochmeister, kein Schulmeister. Dafür soll ich heute ein Gymnasium besuchen – „symbolisch“. Aber es gibt drei in Wolfenbüttel, welches ist das richtige? Das humanistische Gymnasium vielleicht oder das im Schloss? Ich habe mich für das Theodor-Heuss-Gymnasium entschieden. Eine Schule gehört nicht in ein Schloss, so wenig wie eine Universität. Das ist so wie eine Bibliothek im Pferdestall: hier Zucht, dort Bildung, hier Tatsachen, dort Wahrheiten. Ich bin Spenglerianer. Oswald Spengler ist übrigens in Blankenburg im Harz geboren, das früher zu Wolfenbüttel gehörte. Der Hochmeister lacht über Spengler, aber das ist kein Problem: in unserem Orden herrschen Toleranz und Brüderlichkeit. Beide, Spengler und der Hochmeister, würden über Lessing lachen mit seinen Schnapsideen. Lessing war damals im Volk unbeliebt. „Er tat nichts, er hatte nichts, er glaubte nichts“, hieß es. Heute müssen die Schüler nach ihm singen. Zu seinem Geburtstag haben Gymnasiastinnen ein Riesen-Pullover gestrickt, darauf: „Für Lessing, weil Du so groß bist.“ Warum singen sie nicht: „Für den Hochmeister, weil Du so hoch bist!“ Zu welcher Zeit waren die Leute unmündiger? Vor der Aufklärung oder heute? Heute lassen sie die wichtigste Frage ihres eigenen Lebens – ob es einen Gott gibt – von Astronomen und Philosophenlichtern für sich beantworten. Dabei könnten sie genauso gut einen Galaktologen fragen. Wie erbärmlich! Haben sie denn selbst gar keine Kompetenz mehr? Das ist die säkulare Religion des Bürgertums, das ist selbstverschuldete Unmündigkeit.

Hört ihr’s? Die Schulglocke! Das muss die große Pause sein. Vielleicht gibt es eine Milchbar, bin durstig wie ein junger Welfe.