Manifest

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Novus Ordo Blog

Ein kurzes Wort zum Aufbau des Buches

// Was ist das "Novus Ordo Manifest"?

Novus Ordo besteht im Wesentlichen aus drei Teilen. Den Hauptteil (ca. 75%) des 515-Seiten-Werkes bilden die 24 Vorlesungen über das Aleph (= Novus ordo). Zweitens zieht sich "vorlesungsbegleitend" durch sämtliche Unterkapitel eine Fortsetzungs-Erzählung in Form eines "Vlogs": Hier begleiten wir den Protagonisten Hans Haas von Prizinken auf seiner Weltreise im Auftrag des Novus Ordo.

Davon deutlich separiert (sichtbar an der römischen Seitenzählung), steht eine kurze, eher philosophische Einleitung monolithisch am Anfang des Buches. Sie bildet die sogenannte Programmschrift oder das Novus Ordo Manifest. Als kleine Motivation, aber auch intellektuelle "Rechenschaftslegung", ist sie nicht Teil der eigentlichen Vorlesung und sprachlich wie inhaltlich alles andere als charakteristisch für das Buch. Das Manifest selbst unterteilt sich wieder in drei Abschnitte: Nichts Neues mehr seit Babylon? (Hier geht es um die drei Typen „falscher Propheten“, die den Anschauungen Pansophismus, Biblizismus und Szientismus zugeordnet werden), Was ist Novus ordo? (Hier wird den falschen Propheten der wahre Prophet, der Prometh entgegengestellt) und Reisehinweise (d. h. Lesehinweise für das Buch), ergänzt noch durch eine Zusammenfassung (einen analytischen Kurzinhalt der Einleitung).

Als Lese- und Hörprobe hier die ersten beiden (bzw. alle drei) Abschnitte des Manifests:

Einführung

Nichts Neues mehr seit Babylon?

Seit jeher haben Menschen das Gefühl, in besonderen Zeiten zu leben. Welch Glück – oder Unglück – gerade dies sein Hier und Jetzt zu nennen! Etwa die Menschen im späten Mittelalter, die am Vorabend der Reformation den „lieben Jüngsten Tag“ erwarteten. Oder die jungen Vereinigten Staaten von Amerika, die in der Rolle des „American Adam“ den Lauf der Menschheit, den großen Kreis vollenden wollten. Auch ich gehöre zu diesen Menschen. Allerdings, fern von allem Lärm der Gegenwartsdiagnosen, erzittere ich nicht so sehr im Blick auf das Bevorstehende, sondern vielmehr im Blick auf das – „Enthüllte“ (Apokalypse = Enthüllung): das, was sich vor dem zurückblickenden Auge die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch eben genau bis heute aufgetürmt hat und was uns so oft mehr als die schlechthinnige babylonische Verwirrung denn als Umriss eines strotzenden Turmes erscheinen will: die Geschichte, das Wissen, die Fakten und die bloßen Namen, die Schall und Rauch sind, weil einem flüchtigen Geist entsprungen, dem Menschen, diesem krummen Holz...

Wenn ein Bürger des antiken kaiserlichen Rom, einer Stadt voll Brot, Wohlstand und Schönheit, sich im Goldenen Zeitalter wähnte, oder der Grieche Hesiod sich im Eisernen – sind nicht auch das bloße Namen, bloße Betrachtungsformen? Sollte meine Generation, die weniger Fakten, dafür mehr Informationen besitzt, in diesem „Mosaik aus allem“ tatsächlich etwas erkennen können, was allen Generationen vor uns verborgen blieb, eine Offenbarung erfahren, wo sonst immer ägyptische Finsternis herrschte – und genau das behaupte ich –, dann wäre das ganz sicher ein Segen unseres (digitalen) Zeitalters, aber ich möchte es sogar die Gnade der späten Geburt nennen; und selbst wenn dieses digitale Zeitalter doch ein eisernes ist! Denn wir wüssten, dass uns die Namen doch eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die erst ganz auserzählt werden musste, damit wir sie überhaupt erkennen können, und das ausgerechnet in der Epoche, die Francis Fukuyama im Jahr 1991 das „Ende der Geschichte“ nannte. Er hätte auf eine ganz und gar unausdenkbare und noch mehr erschütternde Weise Recht behalten.

Diese Form von Geschichtsbewusstsein lässt wohl auf eine Art „rückwärts gekehrten Propheten“ schließen. Eine etwas kuriose Umschreibung, die eigentlich den Historikern gilt, aber die uns gleich einen wichtigen Umstand bewusst macht: Der Mensch lebt immer in der Gegenwart und darum ist der „Blick“ in die Vergangenheit wie in die Zukunft für ihn keine actio in distans, sondern er findet allein im Hier statt. Unser Zeitfaden aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist in Wirklichkeit nur ein Knoten, aber aus einem Knoten lässt sich kein Faden machen. Alle drei sind verschränkt, fallen ineins, werden „unifiziert“ zu einem Weltganzen, dem der Mensch mit einer gewissen Grundstimmung entgegentritt. Es ist sogar gesagt worden, dass wer die Gegenwart kontrolliert, die Vergangenheit kontrolliert, und wer die Vergangenheit beherrscht, auch die Zukunft beherrscht.[1] Unter diesem Vorbehalt reden wir von dem vorwärts gekehrten, dem rückwärts gekehrten und dem in sich gekehrten Propheten, dem Tiefbohrer in seinem Kopf, der durch diesen Flohzirkus dort oben transzendental vordringt bis zur Apokalypse seiner Seele. Offenbar befinden wir uns auf einem schillernden Betätigungsfeld. Will man da wie ich Neues zur Geltung bringen, dann geht das nicht ohne vorhergehende Enttrümmerung: das Feld muss entmint und nach den Hinterlassenschaften der anderen Geschichtshochstapler, nicht seit Babylon, aber zumindest der letzten zweihundert Jahre, klassifiziert werden. Wenn sich dann eine Bresche auftut, kann man sich ein Mitspracherecht erwerben. Gehen wir’s an!

Hier sind die ersten Anwärter auf die Prophetenkrone, die es auf ihre Beglaubigung zu überprüfen gilt: Dem Ursprung nach sind ihre Vorstellungen sehr alt, doch feiern sie bis heute immer wieder überraschende Konjunkturen. Ihre Denker, oftmals zu den großen Bewegern ihrer Zeit zählend, existieren seit dem Aufstieg der modernen Wissenschaft (an dem sie sogar in nicht geringem Maße selbst beteiligt waren) nurmehr in deren Schatten weiter, als Dunkelmänner und Vertreter der freischwebenden Intelligenz. Auf Personennamen kommt es nicht an, nur auf den Zungenschlag. Sagen wir, es spricht der Meister vom Orden der Gerechten:

„Die Menschheit steht am Entscheidungspunkt. Entweder, es tritt eine planetare Bewusstseinsänderung ein, oder die Erde stürzt ins Chaos. Wer die alten Erkenntnisse, die noch tief in uns verborgen sind, ernst nimmt, sie mit den neuen Erkenntnissen verbindet, seine egozentrische, enge Sichtweise aufgibt und die Welt endlich wieder als ein lebendiges Ganzes begreift, der wird, wie die Alten, die Zeichen und Symbole im Buch des Lebens wieder lesen lernen, der wird, wie ich, die Menschheitsgeschichte seit atlantischer Zeit in einer Chronik an sich vorbeiziehen sehen. Es bleiben uns vielleicht noch sieben Jahre.“

Es soll zunächst eine Terminologie eingeführt werden, mit der es leichter wird, diesen und die beiden noch folgenden Prophetentypen einzuordnen und miteinander zu vergleichen. Das, was der Meister in recht hochtrabender Weise das „Buch des Lebens“ nennt, wollen wir, nur ein klein wenig prosaischer, als Buch der Geschichte oder bildhafter, als Buch des Menschen bezeichnen und ihm den Meister als einen seiner Propheten zuordnen. Die anderen Propheten werden dann auch jeweils einem Buch zugeordnet. Unser Ziel in diesem Abschnitt ist es, das Buch des Menschen in seiner Eigenart und im Zueinander der drei Bücher zu bestimmen. Bei keinem anderen Buch ist das so nötig wie bei diesem. Zunächst kann man erahnen, dass Menschheitsgeschichte recht eigentlich Geistesgeschichte ist. Schon wieder ein großes Wort! Damit sage ich nicht, dass Geist etwas Bestimmtes sei oder überhaupt etwas sei, etwas Feinstoffliches, ein ätherisches Feuer, wie bei unserem Meister – das wäre genauso abstrus wie der Materie-Fetischismus der Naturalisten mit seinen Wirklichkeitsklötzchen –, sondern nur, dass man die Geschicke der Menschen, wenn es um die wirklich interessanten Dinge geht, anders verstehen muss als die Naturdinge – ja, dass man sie verstehen muss, dass man sie nicht erklären kann wie ein komplexes System. Was Menschen geschaffen haben kann der Mensch auch verstehen, weiß Giambattista Vico. Und „Geschichte machen wir selbst“, meint Benedetto Croce. Verstehen heißt aber, Zeichen und Symbole richtig deuten. Das ist die Deutekunst, die Hermeneutik. Unser Meister hat nun zum einen unter der Hand die Hermeneutik zu einer Hermetik überformt (beide Begriffe beziehen sich auf den griechischen Gott Hermes[2]). Zum anderen hat er die Welt, die er als „lebendiges Ganzes“ versteht – „Geist von meinem Geist“ –, in ein umfassendes Sinngebilde, einen allgewaltigen Symbolismus einbezogen. Das ist die Übersteigerung des Pansophismus. Eine Kunst, deren Beherrschung der Meister freilich an gewisse Auflagen knüpft. Es ist ein exklusiver, esoterischer Zugriff auf das Leben und die Geschichte, und das bedeutet Kontrolle über den Menschen und Machtausübung unter der Maske des Philanthropismus.

Unsere zweite Gruppe moderner Propheten hat sich die Heilige Schrift zu ihrem Medium gewählt. Ich möchte allerdings, weil es in der Trilogie anschaulicher wird, vom Buch Gottes sprechen. Seine Grundlage ist die göttliche Offenbarung, deren Bedeutung dogmatisch erschlossen wird – top-down, im Unterschied zur rein hermeneutischen Methode. Auch dieses Buch kennt eine Übersteigerung: den Biblizismus. Und dieser hat nun die Eigenschaft, schnell übergriffig zu werden, unter anderem auf das Buch der Geschichte: er will ihm mithilfe seines Buches den Sinn verleihen, den es selbst nicht hat.3] Bei dieser Form der Vereinnahmung, dem (christlichen) Historizismus, werden die einschlägigen Kapitel der apokalyptischen Bücher, Daniel und Offenbarung des Johannes, historisierend-aktualisierend ausgelegt, d. h. die enthaltenen Zeitangaben, Fristen und Schemata in allen erdenklichen Rekombinationen quasi als Schablone über die Geschichte gelegt, bis sie den konkreten Zeitplan der Heilsgeschichte bis zur Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag freilegen. Letzterer sollte dann am 22. Oktober 1844 stattfinden. Doch Gott sah wie so oft zum Fenster hinaus und sprach: Meine Herrn, es wird nichts draus. Dies alles wäre mehr komisch als tragisch, wenn man nur an die betrogenen Betrüger denken würde und nicht an die Millionen, die sich von ihren Führern belämmern lassen. Aber es hat scheinbar etwas Unwiderstehliches, Gott als Beschützer der eigenen religiösen Sondergemeinschaft zu wähnen, und wenn man dabei die Realität verbiegen muss. Mit offenen Augen lässt sich nicht gut träumen.

Wir kommen zur dritten und letzten Gruppe und damit zum Buch der Natur. Man muss es so sagen: Seine Propheten haben die der beiden anderen Bücher seit der Zeit um etwa 1700 bis heute förmlich an die Wand gedrückt. Dies allerdings liegt nicht am Prinzip des Buches, sondern an der Suggestivkraft ebendieser Propheten (Eigenbezeichnung: Prognostiker), die oftmals, wie bei den anderen Büchern, der Versuchung der Übersteigerung erlegen sind. Für die bündigste Formulierung des Prinzips des Buches konstatieren wir zunächst mit Robert Boyle: „Natur ist die Regel oder das System von Regeln, nach dem sich die Phänomene verhalten: kurz, das Gesetz.“ Natur = Gesetz. Das factum brutum ist das was zählt. Dieses wird induktiv, durch die empirische Methode bestätigt. Das ist das Prinzip des Positivismus. So weit so gut. Es gibt noch eine andere „Definition“ der modernen Naturwissenschaft, die sich im Lichte ihrer Entstehungszeit um 1600 findet und gleichzeitig unsere Problematik weiter erhellt. Wir hatten die Symbole als Grundlage des Buches des Menschen und mithin den Menschen als animal symbolicum erkannt. „New Science“ heißt nun einfach, dass die Zeichen keine Bedeutung mehr haben. Dass die Symbole sich nicht mehr auf die Dinge beziehen. Die Welt wird nur noch erklärt, nicht mehr verstanden. Der im 19. Jahrhundert lebende deutsche Physionom Emil du Bois-Reymond ist ein Beispiel eines wahren Enthusiasten der Naturwissenschaft, die für ihn schier das „absolute Organ der Kultur“ ist. Weil er aber nicht den anderen Erkenntnisweisen ihr Existenzrecht abspricht, gehört er noch nicht der Übersteigerungsform des Szientismus an. Dieser erklärt schließlich den Frontallappen zum Organ der Zivilisation. Damit wird das Buch des Menschen zu einem Kapitel im Buch der Natur – und das Buch Gottes zu seinem Unterkapitel. Jahrhunderte biblizistischer Bevormundung werden gerächt. Auf die Okkupation des Buches des Menschen durch die neuen Propheten richtet sich jetzt unser Augenmerk. Sie soll wieder die Bezeichnung Historizismus tragen, was immer Vereinnahmung, Missbrauch bedeutet, in diesem Fall die sogenannte „Déformation professionelle“. Nun ist es also der wissenschaftliche Historizismus. Viele Wissenschaften haben einen „Vater“, diese hat sogar eine Knallcharge: es ist der Engländer Buckle (1862). Was man ab jetzt sucht, sind nichts mehr und nichts weniger als die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung. Und es kann gar kein Zweifel bestehen: Die neue Wissenschaft der Geschichte gibt nicht viel auf’s Gewesene, denn wie schon Saint Simon wusste: „Toute science a pour but la prévoyance!“[4]

Allein aus dem Prinzip ihres Buches folgt für die neuen Propheten, dass ihnen das entsagungsreiche Leben der Stubengelehrsamkeit beschieden ist (Buckles Privatbibliothek soll 22.000 Bände umfasst haben). Es muss eine Materialmenge, die seit dem 19. Jahrhundert ins Monströse angewachsen ist, empirisch bewältigt werden, um die obwaltenden Gesetzmäßigkeiten zu finden und induktiv zu erhärten. Das muss Spuren in der Physiognomie der Betreffenden hinterlassen. Es gibt zwei verwandte Krankheitsbilder, die hier anhand zweier Prophetenpaare verdeutlicht werden sollen. Das eine ist das des Herrn Makrokosmos, das andere ist der Newtonkomplex. Herr Makrokosmos hat nicht nur die immense Herausforderung des Materials gemeistert, sondern er ist daran so weit gewachsen, man muss sagen: darüber hinausgewachsen, dass für ihn die Grenzen der Perspektive aufgehoben sind und er nun alle Verhältnisse von einem Punkt außerhalb und aus allen Richtungen gleichzeitig erfassen kann. Wenn er Geschichte schreibt, dann Makrogeschichte, „Big History“, denn er kennt den Menschen inwendig und auswendig, kennt seine Stellung im Kosmos (wer hier Ähnlichkeit mit dem Propheten vom Typ 1 erkennt, liegt nicht verkehrt. Allein die Methode ist eine ganz andere). Der Newtonkomplex, benannt nach dem berühmten Physiker, tritt bei demjenigen auf, der es nicht bis auf die Höhe des Herrn Makrokosmos gebracht hat, der aber die Chance eines vergleichbaren Ermächtigungserlebnisses darin sieht, sein eigenes wissenschaftliches Fachgebiet, auf dem er bereits renommieren konnte, unter ein oder einige wenige Bewegungsgesetze zu bringen – um dann dieselben als Universalgesetz der Geschichte verkünden zu könnte.

Die bessere Hälfte unseres ersten Paares gibt der berühmte deutsche Prophet-Philosoph Hegel ab, der vor zweihundert Jahren seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte veröffentlichte – die Geschichtsphilosophie schlechthin. Als Geschichtsphilosophie kann man dabei alle philosophischen Betrachtungen der Geschichte seit der Aufklärung bezeichnen, die sich im Gegensatz zur Geschichtstheologie nicht auf göttliche Offenbarung stützen.[5] Es mag verwundern, warum Hegel, der Philosoph des absoluten Idealismus, unter dem Buch der Natur fungieren soll. Man darf sich hier nicht irreführen lassen: Die gleiche „szientistische Vernunft“ kann in der grobsinnlichen Form des Naturalismus oder wie bei Hegel in der sublimen Form des Spiritualismus auftreten. Zwar ist der Entwicklungsprozess des Geistes in der Geschichte für Hegel etwas anderes als Entwicklung in der Natur, die einem Kreislaufgesetz folgt, aber er folgt doch ebenso einem Gesetz, nämlich einem Fortschrittsgesetz, das er sogar als „Trieb der Perfektibilität“ bezeichnet.[6] Wenngleich sich das vernünftige Prinzip nur „in harter unwilliger Arbeit gegen sich selbst“[7] durchsetzt und obschon in Kampf und heldenhaftem Aufbäumen „manchmal unschuldige Blumen zertreten“[8] werden müssen, so lassen sich doch die unbewusst wirkenden und dem großen Endzweck zulaufenden Kräfte durch empirische Geschichtsforschung enthüllen, und so mit dialektischer Logik aufzeigen, dass in der Weltgeschichte alles seinen vernünftigen Gang geht, nämlich den desFortschritts im Bewusstsein der Freiheit“.[9] „Ein Resultat“, so Hegel, „das mir bekannt ist, weil ich bereits das ganze kenne.“[10] Im Maßstab der Weltgeschichte sind dann sämtliche individuelle Gestaltungen und Ausdrücke der Menschen nur noch bloße Epiphänomene im Weltprozess, der Dampf der Lokomotive des Fortschritts, der im Wind zerstieben und verfliegen muss: „Was das Individuum sich ausspinnt, kann für die Wirklichkeit nicht Gesetz sein“[11], oder sie werden zu Atomen in der kinetischen Gastheorie des Geistes: „Diese unermessliche Masse von Wollen ... nur Werkzeuge des Weltgeistes.“[12] Die Quantität schlägt so in Qualität um: Der Staat, das einzige Individuum, das zählt, „ist die Realisation des absoluten Endzwecks, ist die göttliche Idee, ist um seiner selbst willen.“ „Allen Wert hat der Mensch allein durch den Staat.“[13] Wenn man nun die Natur dieses Geistes betrachtet, wird klar, dass Karl Marx hier keinen Hegel vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Füße zu stellen brauchte, sondern nur noch die deutsche Begriffsgespensterei in die Sprache der realen Lebensverhältnisse übersetzen musste: Voraussetzung der Geschichte sind die unter ihren jeweiligen materiellen Bedingungen lebenden Menschen. Aus einem ökonomischen Bewegungsgesetz erklärt sich die gesamte menschliche Kultur. Materie ist nicht toter Stoff, sondern ist stets in der Wechselbeziehung mit dem Menschen. Natur ist nicht bloß Körperwelt, sondern „das Ensemble der Gesellschaftlichen Verhältnisse“.[14] Marx’ Materialismus ist nur ein Geschmack, so wie Hegels Idealismus; Fakt ist, dass beide vor dem populären Szientismus auf dem Bauch liegen.[15] Mit Marx als seinen Mose tritt dieser nun in eine neue religiöse Phase, den Sozialismus. Lenin wird sein Messias.[16]

Einhundert Jahre nach Hegel, als krönender Abschluss des Langen 19. Jahrhunderts, erscheint das Hauptwerk eines weiteren Deutschen, das man getrost als Summe der kulturphilosophischen Spekulationen dieses Zeitalters bezeichnen kann, ohne dabei die Eigenleistung und das vielberufene Genie des Mannes zu schmälern. Durch sein Erscheinen am Ende des für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieges wie ein Menetekel und Offenbarungswort in den Volksmund übergegangen, ist uns noch heute mit dem „Untergang des Abendlandes“ zumindest der Titel dieser säkularen Johannesapokalypse von 1200 Seiten Umfang als geflügeltes Wort geläufig. Ich habe keine Vorstellung davon, ob „kosmische Flutungen“ eher der geistigen oder der materiellen Welt zuzuordnen sind, und sicher hätte mir auch Oswald Spengler keine Antwort auf diese Frage geben können. Für Denker und Wahrheitsapostel, zu denen er auch Marx mit seinem „theoretischen Sozialismus“ zählte, hatte er nichts übrig, sondern allein für den Mann der Tat, der seiner „organischen Logik“, dem Urgefühl des Schicksals folgt, das „jenseits aller Ursachen, Wirkungen und Wahrheiten“ liegt. Oswald Spengler wird zu den sogenannten Lebensphilosophen gezählt. Ist das nun das Lösungswort für das Problem der Geschichte? Ist hier wenigstens der Mann, um das „Buch des Menschen“ aus dem Zauberring des Szientismus zu befreien? Ganz im Gegenteil. Er wird noch nachdoppeln – Szientismus lässt sich gut mit Relativismus verbrüdern. Und wenn die abendländische Kulturseele dem Untergang (oder glimpflicher formuliert: der Vollendung) entgegenreift, dann würde ein Werk, das diese Vollendung gerade mit den à la mode-Methoden des Relativismus, der Physiognomik und der Kulturmorphologie diagnostizierte, zu einer Art hegelscher Selbstbewusstwerdung des Geistes, aber in der zynischsten aller denkbaren Wendungen, nämlich der vollen Bewusstwerdung der abendländischen Seele um ihrer selbst, genau zum Zeitpunkt ihres einbrechenden Siechtums zum Tode; und der Autor selbst würde durch diese Vivisektion zum selbstlosen Kulturheroen, dem die letzten Paladine des preußischen Sozialismus in einer dystopischen Welt aus Großstadt-Fellachen und Caesarismus ihr morituri te salutant zuriefen. Man muss um dieses unbedingte Bewusstsein Spenglers, selbst die Kraftmitte der kosmischen Daseinsströme zu sein, wissen, wenn man die großen Ankündigung in seiner Präambel verstehen will: „In diesem Buch wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen“, „die Physiognomik des Weltgeschehens wird zur letzten faustischen Philosophie“, einer „Tat wie die des Kopernikus“. Aber worin besteht nun diese kopernikanische Großtat? Spengler macht in der Weltgeschichte acht Kulturen aus, von denen die westeuropäisch-amerikanische, die bald sterben muss, eine ist, und diese „Kulturen blühen aus dem Schoß einer mütterlichen Landschaft auf, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum ihre eigene Form aufprägt“. Sein neues Geschichtsbild – mich erinnert es an das Modell der Wurzelrassen – hänge so nicht mehr vom zufälligen Standpunkt des Betrachters ab, wie es bei der bisherigen, vom europäischen Mittelpunktswahn geprägten nationalen Geschichtsschreibung der Fall war. „Was bisher fehlte, war die Distanz vom Gegenstande.“[17] Dass Spengler diese Distanz wahren kann, ist klar. Aber was ist mit unserem durchschnittlichen mikrokosmischen Bewusstsein? „Die mikrokosmische Lebensseite ... sie liegt dem werdenden Leben doch wie eine Haut an, durchschauert vom Takt des Blutes und ein beständiges Zeugnis von den verborgenen Trieben kosmischen Gerichtetseins. Die Rasse beherrscht und formt das gesamte Begreifen.“ (Spengler hat seinen Hegel gut studiert[18])

Der Mensch ist also nicht mehr individuelles, kreatives Geschöpf, das Kultur schafft, sondern nun der Kultur, dem eigentlichen Organismus und „Individuum höherer Ordnung“ untergeordnet. Spenglers unentwegte Rede von einer umfassenden Symbolik, die noch in dem Ausspruch gipfelt: „Alles ist Zeichen und Symbol“, ist damit bereits erledigt. Hier wird das Symbol mit dem Prognostikum verwechselt: Spenglers Symbolik ist eine Physiognomie, und zwar des Erwachens, Erblühens, Sterbens und Todes von als organisch verstandenen Kulturen. Das sind aber keine Symbole, denn hier gibt es nichts zu verstehen! Das sind Vitalparameter; aus denen kann man höchstens eine Kurve zeichnen. Bei einem hippokratischen Gesicht gibt es nichts symbolisch zu deuten oder zu verstehen, sondern nur zu erklären. Was Spengler nicht bio- und psychogenetisch in einer seiner acht Kulturen „auflösen“ kann, ist für ihn Müll, intellektueller Abfall oder nur noch von zoologischer Bedeutung. Symbole, die nicht seine Symbole sind, sind für ihn keine Symbole, fallen der Säuberung des Materials „von allem Trübenden und Unbedeutendem“ zum Opfer: „Namen sind Schall und Rauch!“ – Oswald Spengler in seiner autistischen Monade.

Arnold J. Toynbee (†1975), der „fromme Spengler“, will es in A Study of History seinem heimlichen Vorbild gleichtun und entwickelt, britische Weltgewandtheit mit antiker Weisheit kombinierend, eine Panoramaschau der Kulturen, der zwar nicht spenglerscher Röntgenblick und Kaltschnäuzigkeit zu Gebote stehen, die dafür aber ganz ohne biologistische Phantasmen auskommt und an empirischer Fleißarbeit selbst den Deutschen übertrifft. Doch man staunt nicht schlecht, als der Byzantinistik-Professor – über 30 Jahre lang Direktor des renommierten Chatham-House, einem königlichen Institut, das dem britischen Außenministerium zuarbeitet – induktiv ein Gesetz findet, nach dem alle Kulturen in ihrer Endphase jeweils eine 3 ½ - Takt-Folge von Rückschlägen und Erholungen durchlaufen.[19] Die 3 ½ steht zentral in der Offenbarung des Johannes (schon bei Daniel) – sie verweist auf das Ende der Zeiten und den Antichrist. Toynbee war das natürlich bewusst, auch wenn er den Bezug auf die Apokalypse geflissentlich vermeidet.

Der Gedanke, dass wir mit dem Prophetentum im „Buch der Natur“ eine im Grunde säkularisierte, diesseitsreligiöse (immanentisierte) christliche Eschatologie vor uns haben, hat viel für sich. Wenn Karl Löwith aber Toynbee einen Christen nennt, dann ist das falsch.[20] Richtig ist, dass Toynbee in seinem Wunsch, einen ökumenischen Glaubensbestand, einen Weltethos zu verwirklichen, auf das Christentum setzte. Ich bevorzuge, den Begriff moderne Gnosis, den Eric Voegelin prägte: Es ist diese Gewissheit, die Menschheit als ein Datum, ein Gegebenes, erfasst zu haben, schließlich den Mächtigen Tipps und Herrschaftswissen verkaufen zu können. Voegelin nennt Spengler in diesem Zusammenhang einen Zuhälter der Macht. Beispielsweise hat er Politikern und Direktoren in der Weimarer Republik Exemplare seines Buches zugeschickt, als der Mann, der wusste, wie man den verfahrenen Reichskarren noch einmal auf Kurs bringen konnte; zuerst Band I, und wenn sie nicht antworteten, noch Band II.[21] Es zeigt sich hier, nebenbei bemerkt, selbst bei dem Kulturpessimisten Spengler noch das Prinzip Hoffnung. Voegelin bringt dann den Nexus zwischen derartigen „Menschenkennern“ und dem Phänomen des 20. Jahrhunderts, das er mit der Bezeichnung „Politische Religionen“ geprägt hat, auf die griffige Formel: Politische Religion = Gnosis + Apokalypse + Macht.

Zu guter Letzt hat auch unser junges 21. Jahrhundert seine Propheten. Am erfolgversprechendsten in einer Zeit, in der die alten Erzählungen nicht mehr geglaubt werden und eine Spaß- und Lustkultur überwiegt, ist es, man versucht, die Welt zu unterhalten und gleichzeitig zu erhalten. Dem durchaus prickelnden Gefühl des Weltuntergangs begegnet man, je nach Phantasiebegabung mit Science Creation – das ist Science Fiction, die aussieht wie Wissenschaft – oder durch Beschwörung eines Homo Deus ex machina, des Menschen als Weltretter. Wider den Methodenzwang zu handeln ist ausgeschlossen, denn Fühlung zur Macht ist das A und O, auch für postmoderne Propheten – die aufzuzählen sich im Übrigen nicht verlohnen würde. Wir wollen stattdessen das „Buch der Natur“ schließen.

Was ist Novus ordo?

Wenn unsere Bestandsaufnahme etwas gezeigt hat, dann dass die Prophetenbeeren immer noch nicht halten, was sie versprechen – und dass ihre Konsumenten allzu gern in Richtung Macht gravitieren – den schönen Spruch bewahrheitend: Die alten Propheten sind tot und die neuen taugen nichts mehr. Hier ist der Punkt, an dem ich auf das einleitende Zitat[22] Ortegas verweisen möchte. Ortega wünscht sich die Offenbarung einer Wirklichkeit, „die der Mensch selber ist“. Nennen wir den von mir angekündigten Umriss eines Wissensgebildes, welches sich enthüllt haben soll, zunächst „Objekt klein a“. Aber anstatt jetzt spanische Schlösser zu bauen – mit Jahrmarkt-Ballyhoo verkauft man nur Prophetenbeeren – gehen wir noch etwas den grundständigen Weg und kombinieren zusammen mit Ortega eins nach dem anderen – wie der Bauer die Klöße isst – einen nach dem anderen. Es sollte deutlich werden, wie konklusiv die Denklinie zu „Objekt klein a“ verläuft, auch wenn der Grat, wie man auf so etwas kommen kann, doch schmal ist.

Wenn es eine historische Vernunft sui generis gibt, dann muss sie das Eigenste des Menschen angehen: die Namen (Gott sprach: Wie der Mensch jedes Wesen benannte, so sollte es heißen). Wir nehmen den Menschen dadurch ernst, dass wir seine Symbole ernst nehmen. Das ist das genaue Gegenteil der szientistischen Verachtung alles Symbolischen als etwas bloß Subjektives (s. etwa Marx: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“). Mit diesem Symbolismus unmittelbar verbunden ist der Gedanke der ästhetischen Ganzheit. Im Grunde ist das das alte Denken bis in die Zeit des Barock, bevor die verzweckte, instrumentelle Vernunft anhob, all das zu ersticken. Hier liegt aber nun die gewaltige Möglichkeit, nämlich die spielerische Anwendung dieses symbolischen Denkens auf die heutige Informationsfülle. Wir wären hierin den Alten haushoch überlegen – und das werde ich beweisen. Ich denke an Daniele Barbaro (1570), der Architektur nicht mit einer technischen Disziplin identifizierte, sondern gar mit der Gesamtheit allen Wissens, das der Mensch fassen und anwenden kann, an Leute wie Johann Heinrich Alsted (†1638), die überzeugt waren, dass wenn die ganze Schöpfung vollständig katalogisiert und systematisiert worden sei, „die Zeit erfüllt“ und damit das Millennium gekommen sei[23] – es ging also bei einer Enzyklopädie wörtlich um Alles und ums Ganze[24] –, ich denke an Athanasius Kircher (†1680) mit seinem Wahlspruch in uno omnia (‚in Einem alles’), der Verspieltheit und Wissenseifer, Ästhetik und absoluten Scharfsinn in sich verband, ich denke aber auch an Ortega, für den Geschichte eine unerbittliche Kette ist, wo nichts klar ist, solange nicht alles klar ist[25], und vor allem an Jorge Luis Borges und seine totale Bibliothek – wir nennen das „Objekt klein a“ ab sofort ein Aleph: ein kleines Ding, in dem die Welt ist, oder: Novus ordo (kurz: No), zu deutsch: die Neue Ordnung oder die Neue Abfolge der Zeitalter.

Das ist: Unsere Welt in symbolischen Mosaiksteinen erfasst und diese wieder zusammengefügt zu einem kleinen vollkommenen Ganzen – schön, wahr, gut und seinsgemäß – auch eine zeichnerische Aufgabe!

Der Forderung Ortegas entsprechend darf unsere Vorgehensweise dabei 1) der Geschichte nichts Fremdes aufzwingen und muss 2) in sich vollkommen rational sein. Wir haben so zwei absolute Muss-Bestimmungen, die Novus ordo von allen bisherigen Versuchen, das Problem der Geschichte irgendwie zu meistern, zu unterscheiden hat: 1) das Spielerische, das eigentlich Menschliche (nach Schiller), und das bedeutet gerade die Absichtslosigkeit anstatt des Erzwingenwollens. „Zwecklos aber sinnvoll“ – das ist nicht nur ein ästhetisches Ideal, sondern das sind alle wesentlichen Vollzüge des Menschen. Novus ordo darf also eigentlich gar kein Versuch sein, das Problem der Geschichte zu lösen. Und tatsächlich: Porzellan suchen statt den Stein der Weisen, und Gold finden statt Porzellan! – das heißt Novus ordo. Es erfordert den entgegennehmenden Blick, die Bereitschaft, das Mächtige, das kommt, sich entfalten zu lassen. 2) Es hat offenbar noch nie jemand versucht, die Geschichte more geometrico zu behandeln! Ich benutze diesen Begriff hier in einem bildhaften Sinne, denn Novus ordo ist 100% synthetisch, aus geometrischen Bestimmungsstücken zusammengesetzt. Unser abstrakter Symbolismus, der auch die Zeitgerade involviert, gestattet ein exaktes, rationales Vorgehen und wir werden diesen Weg konsequent verfolgen, darüber darf nicht der leiseste Zweifel bestehen. Allgemein ist die Schlussweise bei Novus ordo weder induktiv noch deduktiv, sondern eher detektivisch: wir sprechen von einem Abduktionsschluss (nach Peirce: „Schluss auf die beste Erklärung“). Die Hypothese lautet: Novus ordo. Die ständige Anforderung ist wieder, rezeptiv zu sein (das ist die spielerische Haltung!). Man ist wie ein Bluthund, eine Bulldogge, lässt nicht locker, wie Columbo, bis man zur abgründigen Klarheit kommt. Das ist es und nichts anderes! Das ist Verstehen – Komprehension – und Data-Compression – das ist das Aleph. Es ist nicht eine weitere Geschichtsphilosophie, oder Geschichtstheologie, nicht eine weitere bunte Muschel unter vielen, es ist das Muschelwerk überhaupt! Ich sehe in Novus ordo drei Kriterien der ästhetischen Klarheit: 1. das Kohäsionsprinzip, 2. das Kohärenzprinzip, 3. das Rosinenprinzip. Ich spreche daher vom Rokoko-Prinzip der Selbstevidenz (all das wird später erklärt).

Mit Novus ordo wäre schließlich ein Goldstandard im „Buch der Geschichte“ gefunden. die Tragik des Relativismus, der den Historismus in die Sinnkrise gestürzt hatte, aus der weder Pragmatismus noch Lebensphilosophie, erst recht nicht der Obskurantismus retten können, wäre einfach umgangen. Die Auslegekunst, die nach Schleiermacher erst da anfängt, wo der Anspruch auf Allgemeingültigkeit aufgegeben wird, verklart sich hier zum Evidenzerlebnis. Die Lösung für das Rätsel der Geschichte ist kein Gesetz, sondern eine Ordnung.

Ich sehe eine Vernunftehe zwischen dem „Buch des Menschen“ und dem „Buch der Natur“, die beide in ihrem Selbststand belässt, statt einer Wissenschaft, die sich zur Hure macht und in fremde Betten steigt. Auch die Zeit, da die stolze Braut Geschichte auf dem Prokrustesbett freudloser Bibelfanatiker verstümmelt wird, hat ein Ende. Ich sehe Geschichte und Apokalpyse sich tändelnd umspielen und in einer unvorstellbaren Liebeshochzeit vor Gott sich vereinen, in der neuen Abfolge der Jahrhunderte – Novus ordo.


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[1] Das Zitat stammt von George Orwell. Die Einsicht scheint jedoch schon älter zu sein; vgl. Auguste Comte in discours sur l’esprit positif: „Man kann heute versichern, daß der Lehre, welcher es gelingt, die Vergangenheit in ihrer Gesamtheit hinlänglich zu erklären, infolge dieser Leistung allein unbedingt die geistige Vorherrschaft in der Zukunft zufallen wird.“

[2] Hermes war als Götterbote, d. h. als Vermittler zwischen Göttern und Menschen, in der Lage, die pythischen Orakelsprüche von Delphi richtig zu deuten. Ironischerweise wird seit Schleiermacher das Konjekturenmachen der Hermeneuten selbst Divination genannt, in Anlehnung an die Divination der Hermeten, die man als Prekognition bzw. Retrokognition bezeichnet.

[3] Unsere Propheten sind übrigens besser bekannt als Bibelfundamentalisten. Die Vereinnahmung des Buches der Natur wird dann Kreationismus genannt (ein treffenderer Begriff wäre ‚Physikotheologie’), die des Buches der Geschichte „Prophetische Theologie“ (theologia prophetica).

[4] Vgl. dazu das Motto Auguste Comtes: „Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir.“ („Wissen, um vorherzusehen, vorhersehen, um handeln zu können.“). Ossip K. Flechtheim, der „Vater der Futurologie“, der Zukunftswissenschaft, die besonders in der Sowjetunion betrieben wurde, macht in seinem Buch Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, S. 53f, darauf aufmerksam, dass auch das Dreistadiengesetz Comtes der Zeitstruktur Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft folgt.

[5] „Philosophie der Geschichte ist, wie wir uns schon denken können, „Entdeckung der Zukunft im Vergangenen“ (nach Ernst Bloch).

[6] G. W. F. Hegel: Philosophie der Geschichte. Hrsg. Eduard Gans, 3. Auflage, Berlin 1848, Duncker & Humblot, S. 67.

[7] ebd., S. 69.

[8] ebd., S. 41.

[9] ebd., S. 24.

[10] ebd., S. 14.

[11] ebd., S. 44.

[12] ebd., S. 32.

[13] ebd., S. 49.

[14] Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 1980 (erste Auflage 1952), S. 474f.

[15] Karl Löwith ist sogar der Meinung, dass Hegels idealistische Geschichtsauffassung viel weniger religiösen Geist in sich bewahrt hat als der atheistische Materialismus; vgl. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Kohlhammer, Stuttgart 1953, S. 54.

[16] Der dialektische Heilsrhythmus führt vom Paradies (Urkommunismus) über den Fall (Kapitalismus), die Rettung (Sozialismus), wieder zum Paradies (Kommunismus).

[17] Immer wird behauptet, Spengler habe den sogenannten „Eurozentrismus“ überwinden wollen. Das ist ein Mythos, den er sich mit seinem Kopernikus-Vergleich selbst geschaffen hat. Wer so sagt, hat offenbar nur die Einleitung seines Hauptwerkes gelesen. Kurzum: falls man einen gepflegten Kulturchauvinismus sowie Aversionen gegen alles Fremde entwickeln möchte, sollte man zu „Der Untergang des Abendlandes“ greifen.

[18] Genauer: seinen Dilthey. Denn Wilhelm Dilthey hatte bereits die sich im Prozess des hegelschen Weltgeistes verwirklichende objektive Vernunft durch die Idee von der „Totalität des Lebens“ ersetzt: „Alles hat in einem Zeitalter seine Bedeutung durch die Beziehung auf die Energie, die ihm die Grundrichtung gibt. Sie drückt sich aus in Stein, auf Leinwand, in Taten oder Worten. Sie objektiviert sich in Verfassung und Gesetzgebung der Nationen. Von ihr erfüllt, fasst der Historiker die älteren Zeiten auf, und der Philosoph versucht, von ihr aus den Sinn der Welt zu deuten. Alle Äußerungen der das Zeitalter bestimmenden Energie sind einander verwandt. Hier entsteht die Aufgabe der Analyse, in den verschiedenen Lebensäußerungen die Einheit der Wertbestimmung und Zweckrichtung zu erkennen.“ Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 228. Vgl. dazu Spengler: UdA, S. 207-209, 224-226.

[19] Arnold J. Toynbee: Der Gang der Weltgeschichte, Kohlhammer. Stuttgart 1949, S. 545ff, hier: S. 546.

[20] Löwith erkennt allerdings sehr wohl Toynbees szientistische Unterlage; a. a. O., S. 24.

[21] Auch Hitler hat Spenglers Werk gelesen, und zwar während seiner Festungshaft in Landsberg. Und wie nur wenige von der Lektüre unbeeindruckt bleiben, so auch er nicht. Das schlägt in Hitlers Denken mannigfach durch: in seinem Begriff der Vorsehung , die dem spenglerschen Schicksal entspricht, in seinem Hass auf Intellektuelle, der Bevorzugung der Ingenieurwissenschaft vor der als jüdisch vorgestellten theoretischen Physik und Atomphysik, der Unterschätzung Russlands. Spenglers nationaler Sozialismus, der „Preußische Sozialismus“, steht als Ideologie aber höchstens noch in einer Korrelation zum Nationalsozialismus Hitlers. Das Hauptproblem, das Hitler mit Spengler hatte, war, dass er als Führer am Beginn eines 1000-jährigen Reiches stehen wollte und nicht als ein Caesar am Ende einer spenglerschen 1000-jährigen Kulturmonade.

[22] „Bis jetzt war die Geschichte das Gegenteil der Vernunft. In Griechenland waren die Ausdrücke Vernunft und Geschichte Gegensätze. Und tatsächlich hat sich bis heute niemand damit befasst, in der Geschichte ihre rationale Substanz zu suchen. Höchstens hat man den Versuch gemacht, ihr eine fremde Vernunft aufzudrängen, wie Hegel, der sie mit dem Formalismus seiner Logik, oder Buckle, der sie mit seiner physiologischen und physikalischen Vernunft erfüllt. Mein Vorhaben ist genau umgekehrt. Es handelt sich darum, in der Geschichte selbst ihre ursprüngliche und autochthone Vernunft zu finden. Deshalb ist der Ausdruck „historische Vernunft“ in seiner vollen Bedeutung zu verstehen. Keine außerhistorische Vernunft, die sich in der Geschichte zu erfüllen erscheint, sondern wörtlich das, was dem Menschen passiert ist und eine selbstständige Vernunft darstellt, die Offenbarung einer Wirklichkeit, die über die Theorien von Menschen hinausgeht und die er selbst ist unter seinen Theorien. Was es bis jetzt an Vernunft gab, war nicht historisch, und was es an Historie gab, war nicht rational. Die historische Vernunft ist also ratio, Logos, strenger Begriff. Darüber darf nicht der leiseste Zweifel bestehen.“ (José Ortega y Gasset, In: „eine neue Offenbarung“, aus dem Aufsatz: History as a System)

[23] Dieter Groh: Göttliche Weltökonomie. Suhrkamp, Berlin 2010, S. 495-503, bes. S. 500.

[24] Oder wie es der Astronomen Johannes Stöffler sagen würde: um Wetter, Königreiche, Provinzen, Verfassung, Würden, Meerestiere und alle Landbewohner. Von Stöffler stammt auch das Zitat unter unserem Buchspruch oder Epigraph: „Erhebet daher eure Häupter, ihr Christen!“ (vgl. Endzeitrede Jesu, Lk 21,28).

[25] José Ortega y Gasset: Geschichte als System und Über das Römische Imperium. dva, Stuttgart 1952, S. 75f.